Dein Haus - mein Haus
Aneta Augustyn, Gazeta Wyborcza, 26.05.2006
Fern doch treu - sagen sich die ehemaligen Bewohner des Glatzer
Landes. Einige Hundert Deutsche reisten an, um das Jubiläum ihrer touristischen
Organisation zu feiern, die ihre Großväter schon im 19. Jh. gegründet
hatten.
Grenzeck - Czermna
Zu einem soliden Stück Fleisch, abgelöscht mit Backpflaumen
gab man glitschige Kartoffelklöße. An den Geschmack des "Schlesischen
Himmelreichs" erinnert sich Elisabeth Schmidt bis heute.
Man lebt wie im Himmel in Grenzeck, einem abgelegenen Winkel der
Grafschaft Glatz mit einer Aussicht, wie auf einem Landschaftsbild: sanfte Hügel,
ein Bächlein, ein Teich neben dem Haus. Die Schmidts wohnten hier seit 1620,
und Johann, einer ihrer Vorfahren, baute die bis heute berühmte Schädelkapelle.
Es genügte, über die Straße zu gehen, um an die
tschechische Grenze zu gelangen. - Problemlos besuchten wir uns, Deutsche und Tschechen;
alle sprachen deutsch und auch tschechisch. Schon damals hatten wir unser vereintes
Europa - erinnert sie sich. In diesem paradiesischen Ende der Welt hatten wir keine
Ahnung, dass der Krieg sich anbahnte.
Als man den Vater zum Militär einzog, blieben sie allein mit
Mutter und Oma. Die Russen, danach die Polen erlaubten ihnen, im Haus zu verbleiben,
in das Umsiedler aus Galizien einquartiert wurden.
Grenzeck hieß nun Czermna.
- Vater kam 1947 mit anderen Wehrmachtssoldaten zurück.
Einer von ihnen fand sein Haus leer vor, ohne Frau und Kinder. Er begann wie von
Sinnen zu schreien. Die Milizianten erschlugen ihn wie er stand, auf der Straße.
- erzählt sie.
Auf Anraten der Nachbarn floh Vater in die Tschechei. Manchmal
kam er nachts zur Grenze, um aus der Ferne seine kleine Tochter zu sehen. Mutter
schrieb an Bierut, damit sie ihm erlaubten, zurück zu kehren. Nach zehn Jahren
wurde es möglich.
In Czermna fühlten sie sich zunehmend unbehaglich. Die polnische
Staatsbürgerschaft wollten sie nicht annehmen, die deutsche bekamen sie nicht.
In den Papieren der Schmidts stand also "Staatsbürgerschaft nicht festgestellt".
Elisabeth ging in die tschechische und deutsche Schule, ihr Abitur legt sie in Polnisch
ab.
In den sechziger Jahren beschlossen sie, nach Deutschland auszureisen.
Die Nachbarn rieten ab: "Fahrt nicht, es wird bald wieder wie früher. Wir
kehren nach Lwów (Lemberg) zurück und dies wird wieder eures sein".
Die Schmidts jedoch unterschrieben das Dokument, nach dem sie
alles, was sie besitzen, dem polnischen Staat übereignen. Und dass sie niemals
wieder zurückkehren.
Sie haben ihr Wort nicht gehalten. Ein halbes Jahr vor seinem
Tode fuhr Vater in die Tschechoslowakei, stand stundenlang an der Grenze und schaute
auf sein deutsch/polnisches Haus. Elisabeth besuchte ihre Heimat erst in den siebziger
Jahren.
Ständig kehrt sie mehrere Male im Jahr zurück. Die
Söhne können es nicht begreifen, warum sie aus ihrem wohlbestellten Haus
in Westfalen durch ganz Deutschland reist, um auf einige Hütten und Berge zu
schauen. Während des Kriegszustandes (Anm.: in den achtziger Jahren in Polen)
schickte sie den hiesigen Bewohnern Medikamente und Lebensmittel, letztlich organisierte
sie in Deutschland die Operation für eine Jugendliche, die ihre Stimme verloren
hatte. Sie hat sich mit der Familie von Joanna, Umsiedler aus Galizien, angefreundet
und behandelt das Mädchen wie eine angenommene Tochter.
Immer häufiger weilt sie im Glatzer Land. - Keine Kraft
kann das Heimweh aus ihrem Herzen entreißen.
Rothwalterdorf - Czerwieńczyce
Genau an seinem dreizehnten Geburtstag, am 24. Februar 1946,
ordnete die Miliz an, alle sollen sich im Gemeindesaal versammeln. Georg konnte
nichts mitnehmen. Er verließ das Haus nur in warmer Kleidung. In Glatz verfrachtete
man sie in Viehwaggons. Fünf Tage lang eingeschlossen, in der Dunkelheit, sie
wussten überhaupt nicht wohin sie fuhren.
- Wir beteten, dass es nach Westen gehen möge und nicht
andersherum - erinnert sich Georg Hattwig.
In Norddeutschland stiegen sie aus, dort begann er befristet
bei einem Bäcker zu arbeiten. Jahre später lernte er seine Frau kennen,
aus der gleichen Glatzer Gegend.
1974 fuhr er zum ersten Mal nach dem Kriege in sein Dorf, dessen
Namen er nicht aussprechen konnte: Czerwieńczyce. Im Esszimmer hing das Hochzeitsbild
seiner Eltern noch immer an der Wand - genau da, wo sie es vor 30 Jahren hinterlassen
hatten.
- Unseren Platz haben Leute aus Stanisławów in Galizien
eingenommen, sie wissen gut, wie das ist, vertrieben zu sein - erzählt der
grauhaarige Herr. Sie sind jetzt befreundet und er besucht sie jedes Jahr.
Bielendorf - Bielice
Als die Großeltern ihre goldene Hochzeit feierten, hatte
jeder Enkel bei Tisch etwas im Glatzer Dialekt vorzutragen. So erfuhr Christian
Drescher, damals ein Teen, einiges über Bielendorf: ein kleines Dorf entlang
des Dorfbaches, über die Sommerfrischler, die damals vor dem Krieg für
einen ganzen Monat kamen, über das Haus unter der Linde, wo sein Vater geboren
wurde.
Als die Dreschers in den siebziger Jahren nach Bielendorf/Bielice
kamen, zeigten die Kinder mit den Fingern auf sie - "Das sind die Deutschen,
die um ihre Sachen gekommen sind". Sie erklärten, dass sie nichts wegnehmen
wollen, dass hier, wo nur die Mauer verblieb, einmal ihr Haus gestanden hatte, dass
sie die Linde selbst gepflanzt haben. Schnell war das Misstrauen vorbei.
Christian war schon 24 mal dort; stets besucht er fast alle Bewohner
des Dorfes. Er kennt sie alle mit Vornamen, nächtigt in ihren Häusern.
Er wandert im Reichensteiner und Bielengebirge auf Wanderwegen, von denen schon
Großvater erzählte. - Ich habe noch keine schönere Landschaft gesehen
- gibt er zu.
1997 kehrte der Vater nach Bielice zurück. Herzlich aufgenommen,
beschloss er, einige Monate zu bleiben.
- Es war ein schlimmes Jahr: das Hochwasser vernichtete das Dorf
und Vater musste abreisen. Als er das Dorf verließ, sage er, es sei für
ihn wie eine zweite Vertreibung gewesen. Ein halbes Jahr später verstarb er
- erinnert sich der Sohn.
Kurz vor seinem Tode versprach ihm Christian, alles zu tun, um
die Erinnerung an ihre "Kleine Heimat" am Leben zu erhalten.
Kardinal Gulbinowicz lud ihn vor kurzem - als Ehrengast - nach
Bielice zum 300. Geburtstag von Michael Klahr ein. Christian, der Ingenieur aus
Braunschweig, ist ein Nachfahre des berühmten Bildhauers des Barock, des Schöpfers
vieler Figuren, Amben und Beichtstühle.
Glatz - Kłodzko
Christian, Georg, Elisabeth ... - in Deutschland pflegen über
tausend Personen die Erinnerung an das Glatzer Land. Sie betreiben die Kontinuität
des GGV (Glatzer Gebirgs-Verein), der schon seit 1881 besteht. In der Taverne am
Glatzer Ring trafen sich damals einige Personen, die beschlossen, am Beispiel des
Alpenvereins einen eigenen Verein zu gründen. Enthusiasten des Glatzer Landes
und redliche Geschäftsleute waren sich darüber im klaren, dass der Tourismus
zur Entwicklung dieser Region beitragen würde. Sie ermutigten dazu durch den
Bau von Aussichtstürmen und Bauden in besonders malerischen Ortschaften. Nichts
blieb vom märchenhaften, steinernen Kaiser-Wilhelm-Turm auf dem Glatzer Schneeberg
von 1899, den die Behörden der Volksrepublik Polen in die Luft sprengen ließen.
Die Brandbaude am Pass bei Brand aus 1909 blieb jedoch erhalten. Der GGV kennzeichnete
touristische Attraktionen, markierte über 1.000 km Wanderwege, schulte Bergführer,
gründete Radwege und Skiloipen. Sie gründeten eine regionales Museum in
Glatz. Gaben Wanderkarten und Wanderführer heraus, die in Übersetzung bis
heute existieren.
Mit der vor einem Jahrhundert herausgegebenen Broschüre
"Rüpeleien und Proletenhaftigeit bei Ausflügen beiderlei Geschlechts"
riefen sie zu mehr Kultur auf den Wanderwegen auf: "Es gibt Beschwerden, dass
Banden rüpelhafter Jugendlicher mit ihrem wilden Auftreten, Jodeln und lautem
Absingen unanständiger Lieder auf den Wanderwegen stören..."
Die ungewöhnlich straff geführte Organisation zählte
in den Jahren zwischen den Kriegen über 10.000 Mitglieder, auch aus Breslau
und Berlin. Von der Anmut der Grafschaft Glatz war u.a. der Breslauer Historiker
Prof. Robert Becker begeistert, er schrieb häufig über ihre landschaftlichen
Vorzüge und Sehenswürdigkeiten.
- Die Verdienste des GGV für die Bewirtschaftung der Region sind
unschätzbar - sagen die Bergführer Romana und Leszek Majewski aus Kłodzko.
- Man kann sie nur um ihre Aktivität und das Durchsetzungsvermögen beneiden,
auch darum, dass sie so viel bewirkten und die Massen anzuziehen vermochten. Und
dass sie erfolgreich die Meinung der Bewohner des Glatzer Landes darauf einstimmen
konnten, und diese schnell begriffen, welche Chance ihnen der Tourismus eröffnet.
Die Menschen begannen ihre Häuser für Sommerfrischler auszubauen, eröffneten
Pensionen, servierten regionale Gerichte. Die Entwicklung der Eisenbahn und gute
Zugverbindungen beschleunigten den Boom des Tourismus.
Die Führung des GGV traf sich 1944 zum letzten Male in der
Taverne.
Kurz danach nannte sich Glatz nunmehr Kłodzko und die bisherigen
Bewohner der Region verließen ihre Häuser. Zerstreut in Niedersachsen beschlossen
sie, die Idee des GGV fortzusetzen. Über 1.000 Deutsche setzen die Glatzer Traditionen
fort: vom Teen bis zur 105-jährigen Margarethe Reinhold.
In Braunschweig, in den Räumen eines ehemaligen Ladengeschäfts
sammeln sie Glatzer Erinnerungen: Fotos, Zeitungen, Tassen mit Landschaftsmotiven,
Landkarten, Tischdecken ... Sie treffen sich jeden zweiten Samstag, so zwischen
14 und 17 Uhr. Beim Kaffee unterhalten sie sich in ihrem Glatzer Vorkriegsdialekt,
feiern Fasching und die Glatzer Kirmes, geben eine Zeitschrift heraus, führen
eine Internetseite, organisieren Vorträge und Ausflüge. Von den Reisen
nach Polen bringen sie die Glatzer Rose mit, die sie in ihren Vorgärten einpflanzen.
Eben diese Glatzer Rose, eine gelbe kugelförmige Blume,
von denen die moorigen Wiesen im Glatzer Land voll sind, erwählten sie zu ihrem
Wappensymbol. Die Mitglieder tragen die kleine goldene Rose am Revers, malten sie
auf die Wegweiser. Heute, so wie im 19. Jh. tragen die Deutschen die Anstecknadel
oder Krawatten mit der Glatzer Rose. Sie haben sie auch an ihre Fahne geheftet, mit
der sie vor Tagen den Glatzer Ring überquerten. Am Eckhaus, dort wo vor 125
Jahren ein paar Begeisterte sich trafen und den GGV begründeten, enthüllten
sie eine zweisprachige Tafel. Sie trafen sich auch mit dem Bürgermeister, der
Probst von Duszniki Zdrój (Bad Reinerz) begrüßte sie mit
einem Kuchen, in Nowa Ruda (Neurode) pflanzten sie ein Bäumchen der Freundschaft.
- Als ich nach Jahren das erste Mal zum ersten Male wieder zurückkam,
glaubte ich es sei ein Traum - erzählt Elisabeth. - Ich ging meine Straße
entlang und die damaligen Nachbarn fragten: "Hej, Lisa, wie schaut's?" -
Als ob die Zeit stehen geblieben wäre.
Danke an Piotr Grabiec für seine Hilfe.
Aneta Augustyn
Text entstammt dem Portal Gazeta.pl - www.gazeta.pl © Agora SA
Übersetzt von: Horst Wolf, Bad Hersfeld